Die Prägung

Frühkindliche Erfahrungen und erste Wunder


Das Bild über meine frühkindlichen Erlebnisse, von meiner Geburt bis etwa zur Einschulung, basiert im Wesentlichen auf den Erzählungen meiner Eltern, meiner Tante und meinen eigenen, retrospektiven Erinnerungen. Ich bin davon überzeugt, dass meine Liebe zur Natur, besonders zu den Bergen, und meine Berufung zum Diakon hier ihre Wurzeln hat. Obwohl ich mich an Geschehnisse in den beiden ersten Lebensjahren kaum erinnern kann, erzähle ich auch hier in der Ich-Form.

 

Es war tiefster Winter, als meine Eltern im Januar 1954 im schwäbischen Betra, dem Heimatort meiner Mutter, heirateten. Eineinhalb Jahre später, im Sommer 1955, am 26. Juli, kam ich in der Arztpraxis von Dr. Wagner in Hinterzarten auf die Welt. Alles kam ganz plötzlich und schnell, denn auf Vaters alter Zündapp bis nach Freiburg hätten wir's wohl kaum mehr geschafft. "Bieg schnell ab, das Kind kommt", hatte die Mutter noch gesagt und kurz später war ich da. Einige Wochen danach allerdings, mussten mich meine Eltern im Universitätsklinikum in Freiburg abliefern. Ich wurde mehrmals operiert, lag wochenlang auf der Säuglings-Intensivstation und alle rechneten bereits mit dem Schlimmsten. Aber - ein Wunder geschah und ich überlebte.

 

Richtige Lust zu essen hatte ich nie. Vater musste deshalb immer wieder den tanzenden Blechaffen aufziehen, der dann auf dem Tisch herum turnte, um mich dabei abzulenken. Wir wohnten im sogenannten Haus Kaltenbach, dem Wohnhaus eines kleinen Bauernhofs am Rand von Titisee, direkt am Fuß des Hirschbühls und direkt neben dem Strassenwärterhaus, der ehemaligen Arbeitsstätte meines Opas. Oma, Opa und meine Tante wohnten ebenfalls hier; sie oben und wir unten. Um die beiden Häuser herum waren Wiesen, Äcker, Wälder, ein kleiner Bach, zwei Bauernhöfe und zwei ziemlich hohe Berge, der Hirschbühl und der Hochfirst. Wir waren also mittendrin - in Schöpfung und Natur. Direkt vor der Haustür aber verlief die gefährliche Bundesstraße. Jedes Mal, wenn’s nach draußen ging, machte die Oma mir mit Weihwasser ein Kreuz auf die Stirn. „Damit dir ja nichts passiert“, sagte sie, und „Bleib schön an meiner Hand“. Über Bäche und Wiesen springen, aus dem dunklen Wald heraus gucken, auf hohe Bäume klettern und auf schmalen Randsteinen und Mauern laufen, machte riesengroßen Spass. Gegenüber vom Hotel Bären, zur Bahnunterführung hinab, war mein Lieblings-Mäuerle. Es war sehr lang und wurde auch nur ganz langsam höher und höher und die Oma hatte zunehmend Angst, weil sie wusste, dass sie irgendwann meine Hand loslassen musste. Den höchsten Punkt überschritten, ging‘s dann wieder bergab und ich konnte selbst entscheiden, die ausgestreckte Hand der Oma zu fassen, oder nicht.


Geld und Essen waren äußerst knapp. Um Würste, Speck und Fleisch zu haben, mästete Vater jedes Jahr ein Schwein. Auch fuhr er immer mal wieder mit dem Fahrrad ins Unterland, um mit günstig gekauftem, meist selbst aufgelesenen Obst und Gemüse wieder heimzukommen. Auch benachbarte Bauern schenkten uns Naturalien und ab und zu kam auch ein Päckchen von Oma und Opa aus Betra, die wir zwar selten, aber doch regelmäßig besuchten. Betra, gemeinsam mit meinem gleichaltrigen Cousin Willi zu erkunden, war immer Abenteuer-Pur. Die großen Kühe mit ihren noch größeren Hörnern, die quiekenden Schweine, von denen einmal im Jahr das Fetteste zwischen Stall und Misthaufen geschlachtet wurde, der Hühnerstall, den immer nur ich ausmisten durfte, die extrem gefährliche Heubahn mit dem Flaschenzug und der senkrechten Holzleiter, das Räderwerk und die Riemenbänder der Futtermaschine, die Mehlkammer unterm Dach, de Schlack naa - ein Kellergewölbe, wo die Mostfässer lagen, die Rauchwolken, wenn Opa sich eine seiner dicken Burger-Stumpen anzündete und wie er schimpfen konnte, wenn er 'aigfieret' hatte und wir Kinder mal wieder die Küchentür nicht richtig zu machten.

 

Vater hatte bei der Gemeinde mittlerweile eine Anstellung als Stromableser bekommen. Als er später Ratschreiber wurde, nahm er mich oft ins Rathaus mit, wo ich leidenschaftlich gerne das lange Treppengeländer hinunter rutschen und mit dem großen Locher aus Abfallpapier Konfetti stanzen durfte, was dann tatsächlich beim Narrenumzug an der Fasnet verstreut wurde. Mutter arbeitete zunächst als Zimmermädchen. Später, wir wohnten aber noch im Haus Kaltenbach, bemalte sie, um etwas Geld dazu zu verdienen, Uhrenschilder aus Holz. Hunderte und Tausende und noch viel, viel mehr. Ich war davon so begeistert, dass ich ihr dabei nicht nur zusehen, sondern ihr gerne auch helfen wollte. Wenn aber niemand aufpasste, konnte es passieren, dass ich stolperte und mitten in den zum Trocknen aufgestellten Schilderwald hinein fiel. 1957 zogen wir dann um, ins neue Haus neben der großen Kirche und dem riesigen Kirchenbaum, der wenig später, als wir klettern konnten, von allen mutigen Buben des Kirchenviertels immer und immer wieder, bis ganz hinauf zu den Tannenzapfen, bestiegen wurde.

 

Um Geld zu sparen, hatte Mutter mit Oma Franzele das Erdloch fürs neue Haus mit Pickel, Schaufel und Schubkarren eigenhändig ausgegraben. Als dann aber die ersten Gäste kamen, zogen meine Eltern, oft nur wegen einer Nacht, auf den Dachboden, um ihr Schlafzimmer als Doppelzimmer zu vermieten. Meines wurde ein Einzelzimmer und mein Schlafplatz war fortan, wenn Gäste kamen, die Badewanne. Offen gesagt fühlte ich mich darin noch viel wohler und geborgener als im Bett. Das war so kurz vor meinem zweiten Geburtstag, aber so richtig anfreunden konnte ich mich mit dem neuen Zuhause ganz lange nicht. Immer wieder lief ich suchend auf die Strasse hinaus und wollte einfach nur wieder heim.

 

Mutter hatte fortan viel Arbeit, Vater war im Geschäft. Mit seinem Rad, wo ich vorne am Lenker einen Logenplatz - von dem ich alles überblicken konnte - hatte, brachte er mich vor seiner Arbeit zur Oma, danach holte er mich wieder ab. Tage bei der Oma waren immer kurzweilig. Sie war gütig und liebevoll, musste aber immer aufpassen, dass dem Fortspringer - so nannten sie mich - ja nichts passiert. Bei Oma fand alles Leben, außer man war draußen, immer in der Küche statt. Dort war es heimelig und gemütlich-warm. Im Herd knisterte das brennende Holz, der Wasserkessel dampfte und wenn Opa von seinem Kirchgang - werktags ging er täglich, sonntags dreimal täglich - heimkam, setzte er sich ans Küchenfenster und schaute, ohne ein Wort zu reden, stundenlang hinaus. Denn auf der Strasse war immer Bewegung und Leben und auch die Vögelchen flogen gerne an dem Fenster, in das nochmal ein klitzekleines, zusätzliches Fensterchen integriert war, vorbei. Opa öffnete - wenn überhaupt - immer nur das kleine, damit nicht unnötig Kälte von draußen herein kommen konnte. Manchmal erzählte er lustige Geschichten vom Wind oder vom Wald und wenn wir Kinder ihn baten und er auch Lust hatte, griff er in seine Hosentasche, zog irgendetwas Geheimnisvolles hervor und fing an zu zaubern. Ich war mächtig stolz, einen Opa zu haben, der zaubern konnte. Immer war er außerordentlich bescheiden und zufrieden und strahlte bei allem eine große innere Ruhe und Gelassenheit aus.


Oma saß währenddessen am großen Küchentisch und nähte auf ihrem liebsten Stück, einer alten Nähmaschine. Deren Rad war noch von Hand zu drehen, aber das durften nur die Oma und das kleine Hanspeterle. Sonst niemand. Selbst die eigene Tochter, die Näherin war, nicht, was diese ihr verständlicherweise sehr übel nahm. Jahre später sollten dann fast alle meine Kleider von der Oma liebevoll auf dieser Nähmaschine angepasst werden, denn ich war außerordentlich schlank und die gekauften Hosen immer zu weit und zu kurz. Die Liebe der Oma - zu ihrem Enkel.

 

In der Küche stand vor der Spüle noch eine Couch, und wenn die Oma müde war, legte sie sich hin. Dabei nahm sie mich in den Arm und gab mir ein paar Bilderbücher zum Anschauen. Lesen konnte ich ja noch nicht. Lurchi, der Salamander und den Struwwelpeter hatte ich am liebsten. Und wenn ich brav war, las Oma auch gerne mal was daraus vor. Zum Sonntag hin backte sie einen Kuchen und ich wusste, bald wird sie die Tür vom großen Küchenschrank öffnen und die in Silberfolie mit großen Buchstaben verpackte Schokolade heraus holen. Erst viel später lernte ich die grossen Buchstaben <B-L-O-C-K> lesen. Mit dem scharfen Messer trennte sie kleine Stücke ab, erst für den Kuchen, und dann für mich. Davon, und auch von den leckeren 'Breetle', konnte ich - ehrlich gesagt - nie genug kriegen. Wieder Jahre später lag dann neben der Schokolade eine Schachtel Reval oder Rot-Händle, obwohl die Oma selbst überhaupt nichts vom Rauchen hielt. Erneut - die Liebe der Oma zu ihrem Enkel.

 

Immer bevor wir ins Freie hinaus gingen, beteten wir zum Schutzengel und ich bekam ein kleines Kreuzchen mit Weihwasser auf die Stirn; auch dann, wenn die Oma oder die Tante mich nur in den nahen Kindergarten brachten. Hier bei den Schwestern Edma und Theodisia lernten wir, aus einfachen Dingen, Schönes gestalten. Wie beispielsweise malen, flechten und basteln. Zum Beispiel Kinderbetten für die Puppenstube, Pappmasken für die Fasnet oder bunte Laternen für den Martinsumzug. Alles machten wir aus Abfallpapier, Abfallkarton und Abfalltapeten. Wenn's trocken war, gingen wir fast immer in der großen Gruppe hinaus in den Wald, um in Einer- und Zweierreihen in und um den Hirschbühl herum zu marschieren. Überhaupt hatte der Wald für mich etwas zutiefst Geheimnisvolles und Abenteuerliches, aber auch etwas Beschützendes. Freilich auch dann, wenn ich mal was angestellt hatte, was aber, da bin ich ziemlich sicher, so gut wie nie vorkam.

 

Was ich aber gar nie vergessen durfte, waren die zwei Dinge, die man mir verboten hatte. Ohne zu schauen schnell auf die Strasse hinaus springen - und - auf hohe Bäume klettern. So gut ich konnte, folgte ich, aber wenn ich alleine war und niemand zuschaute, musste ich es einfach probieren. Und wie durch Opas Zauberei waren auf einmal alle guten Vorsätze und Mahnungen vergessen. Ich spürte nur noch, dass ich plötzlich den Halt verlor - und fiel. Ich fiel - und fiel - und fiel - aber wohin? Ein Aufprall auf den Boden? Ich spürte nichts. Als ich aber fragen wollte, was denn überhaupt passiert war, merkte ich, dass ich nicht mehr sprechen konnte. Auch bewegen und atmen ging nicht mehr, obwohl ich mich ganz fest anstrengte und es immer und immer wieder probierte. Angst hatte ich aber keine und weh tat mir auch nichts. Wie lange es so ging? Nun - ich weiß es wirklich nicht. Erst als ich dann von weitem eine vertraute Stimme meinen Namen rufen hörte, wachte ich auf und sah über mir in das verzweifelte Gesicht meiner Oma. Und über allem dieser mächtige Baum, durch dessen Äste hindurch der blaue Himmel schimmerte und an dessen Nadeln die grellen Strahlen der Sonne aufblitzten und mich angenehm wärmten. Im Himmel war ich also ganz offensichtlich noch nicht, sondern hatte dank meines Schutzengels, erneut überlebt.

Meine Eltern - Bei ihrer Verlobung, 1951
Haus Kaltenbach - Wohnung meiner Eltern und Grosseltern, 1954
Vater mit Zündapp - 1955
Überlebt - Nach langem Klinikaufenthalt - Auch Dank der Ente, Winter 1956
Mit Oma unterwegs - "Bleib immer schön an meiner Hand"
Vater mit Mastschwein - 1956
Die gefährliche B 31
Betra-Opa mit Kuhgespann - 1957
Das neue Haus beim grossen Kirchenbaum - 1957
Mit meinen Eltern in Betra - 1957
Über bunte Wiesen springen
Das kleine und dicke Hanspeterle - 1958
Mit Cousin Willi im Hexenloch - 1958
Omas alte Handnähmaschine
Im Kurgarten - Herbst 1960
Mit Schwester Gabriela, Oma & Opa - Frühjahr 1961
Mein erster Schultag - Herbst 1961