6 Arm & Reich


Diese Frau hat alles gegeben

Textquelle: Das Neue Testament - Übersetzung von Fridolin Stier, 1989 - MT 12,41-44

 

"Dem Opferstock gegenüber sitzend, schaute er zu wie die Leute Kupfergeld in den Opferstock einwarfen. Und viele Reiche warfen viel hinein. Auch eine arme Witwe kam. Sie warf zwei Kleinmünzen ein, einen Pfennig wert. Und er rief seine Jünger her und sprach zu ihnen: Wahr ists, ich sage euch: Diese Witwe, die arme, sie hat mehr hineingeworfen als alle, die in den Opferstock einwerfen. Denn alle haben aus ihrem Überfluss, sie aber hat aus ihrer Darbnis ihre ganze Habe eingeworfen – alles, was sie zum Leben hatte."


Predigt im Jahreskreis 2006


Armen-Behausung in Beycik / Türkei

Liebe im christlichen Glauben versammelte Gemeinde,

es war einmal – vor langer Zeit, als Gott noch selbst auf der Erde wandelte. Da kam er zum Haus eines reichen Mannes und bat um Aufnahme für eine Nacht, wurde jedoch mit faulen Ausreden abgewiesen. Daraufhin ging Gott zur armseligen Hütte gegenüber. Dort wurde ihm schon die Tür geöffnet, ohne dass er um Aufnahme bat. Man bewirtete ihn aufs herzlichste und als sich Gott am nächsten Morgen verabschiedete, sagte er zu den beiden armen Leuten: „Ihr habt drei Wünsche frei.“ Sie, ganz bescheiden, wünschten sich: die ewige Seligkeit und Gesundheit. Ein dritter Wunsch fiel ihnen erst gar nicht ein. Da versprach Gott die Erfüllung ihrer beiden Wünsche und verwandelte ihre armselige Hütte in ein schönes Haus. Wie der Reiche davon erfuhr, sattelte er sofort sein Pferd und jagte dem Wanderer nach. Nach langem Betteln bekam auch er drei Wünsche frei. Doch – schon nach nur kurzer Zeit hatte er sie durch sein unbedachtes Reden vergeudet.

Soweit das Märchen ‚Der Arme und Der Reiche’ von den Gebrüdern Grimm. Märchen haben so etwas wie einen ‚tiefen Sinn’. Wahrheiten und Weisheiten, das heißt, von Menschen immer wieder gemachte Lebenserfahrungen, spiegeln sich darin wieder. Hier diejenige: dass der Reichtum die Herzen der Menschen verschließt. Der Reiche kann nicht mehr offen sein für seine Mitmenschen – und – er kann auch nicht mehr offen sein für Gott. Sein Herz ist verschlossen, weil er nur noch ‚materiell’ denkt. Nur noch sich selbst und seinen Vorteil sucht. Auch viele arme und reiche Juden sind heute, es ist kurz vor dem Pascha-Fest, unterwegs zum Tempel. Und auch Jesus finden wir hier an diesem hektischen Ort. Dort, gegenüber bei den Opferkästen, wo sie alle vorbeikommen müssen. Denn mindestens zehn Prozent seines Einkommens hatte ein frommer Jude zu spenden, so verlangt es das Gesetz. Und Jesus beobachtet sie – alle – schaut ihnen auf die Finger – schaut ihnen aber auch ins Herz.

Übrigens genauso, wie er auch in unser ‚Inneres’ schaut, wenn wir zum Gottesdienst kommen. Nun – die einen kamen, weil es sich so gehörte. Andere, um gesehen zu werden. Man will ja schließlich einen guten Eindruck erwecken. Wieder andere haben ein Anliegen, möchten Gott um etwas bitten. Und wieder andere kommen, um die Nähe Gottes zu suchen. So unterschiedlich die Beweggründe der Menschen sind, zu kommen, so unterschiedlich sind auch ihre Gründe, Geld zu geben. Einer gibt fröhlich. Ein anderer, weil er muss. Der eine gibt ohne Hintergedanken, der andere will mit Gott einen Handel treiben. Dass die Reichen reichlich geben, ist doch normal. Natürlich im Rahmen ihrer Möglichkeiten. Mit Maß und Ziel. Wer viel hat, hat auch was übrig. Oder? Zumindest sollte es so sein. Hierzu aber von Jesus – kein Kommentar. Weder Lob, noch Kritik. Für ihn, einfach nicht der Rede wert.

Dann aber kommt eine Witwe. Sie hat nur noch zwei kleine Münzen in ihrem Beutel. Die opfert sie beide. Gibtvon ganzem Herzen, ohne zu rechnen. Gibt – ohne sich darüber zu sorgen, wovon sie morgen leben wird. Wie irrational, wie dumm und unvernünftig. Oder? Nicht so für Jesus. Für ihn ist dieser Vorgang derart bedeutend, dass er gleich seine Jünger versammelt und sie fragt: „Habt ihr das gesehen?“ „Nein“, müssen sie sagen, „wir haben es nicht gesehen.“ Sie haben – wie wahrscheinlich auch wir – nur die Goldstücke und Silbermünzen der Reichen aufblitzen sehen. Die Witwe aber – vielleicht lebte sie von der Liebe ihrer Kinder, sofern sie welche hatte – oder von Almosen, wenn sie welche bekam – auf jeden Fall legte sie mit ihren zwei kleinen Münzen restlos alles hinein. Ihre ganze Existenz und ihre ganze Zukunft, im Vertrauen auf Gott. Denn er wird für sie sorgen – heute und morgen. Damit ist sie dem, was Jesus einmal in der Bergpredigt sagte, ganz nahe. Sorgt euch nicht so sehr um euer Leben und die materiellen Dinge und darum, dass ihr etwas zu essen habt, noch um euren Leib und darum, dass ihr etwas anzuziehen habt. Ist nicht das Leben wichtiger als die Nahrung, und der Leib wichtiger als die Kleidung? Euer himmlischer Vater weiß doch, dass ihr all dessen bedürft. Sondern – „trachtet zuerst nach dem Reich Gottes, so wird euch das alles zufallen.“

Jesu Forderungen sind hier sehr radikal. Immer wieder gab und gibt es Menschen, die für sich versuchen, dies zu leben. Ich denke zum Beispiel an Leo F. Tolstoi – „Wie viel Erde braucht der Mensch?“ – oder Franz, den Minderbruder, der aus adligem Hause kommend, alles, bis auf ein kleines Büchlein, den Armen gab. Oder Pepe, ein in freiwilliger Armut lebender Eremit auf Cala Bassa in Ibiza, den ich vor einigen Wochen in seiner Höhle kennen lernte. Damit aber kein falscher Eindruck entsteht: Niemand muss erst Eremit oder gar Bettler werden, um Jesus nachzufolgen. Und dennoch – „Gott will uns – ganz und gar – oder gar nicht“, so hat es einmal Dietrich Bonhoeffer zugespitzt gesagt. Wer sich also Gott zuwendet, sollte es von ganzem Herzen tun. Äußerlichkeiten und Showeffekte interessieren ihn nicht. Wer von seinem Überfluss etwas abgibt was ihm nicht wehtut, wird sich und seine Art zu leben danach kaum in Frage stellen. Er wird weiter so leben, dass er seinen ‚vermeintlichen Überfluss’ vermehrt, durch das Leben hetzt, rafft und sammelt. Er wird nichts loslassen, weil er nicht loslassen kann.

Liebe Schwestern und Brüder,

was hätte sich wohl die arme Witwe von Gott gewünscht, hätte sie auch nur einen Wunsch frei gehabt? Wir wissen von ihr so gut wie nichts – aber eines ist gewiss. Unter allen Besuchern im Tempel war sie – ohne es selbst zu wissen – mit Jesus am engsten verbunden. Irgendwann, irgendwie hatte sie in ihrem Leben gespürt: Es gibt eine Kraft die mich trägt und größer ist, als alle Kräfte dieser Welt. Eine Kraft, höher als alles Irdische, und weiter, als alle menschliche Vernunft. Die Kraft, letztendlich loszulassen, ohne Schmerzen. Meine Zeitin deinen Händen. Es ist wie eine Art Vertrauensfrage, die uns Gott täglich neu stellt. Wer hierbei bereit ist, sein Leben bedingungslos ‚in den Opferkasten‘ einzulegen, der hat ja wahrlich nichts mehr zu verlieren. Er wird aber Gott gewinnen und noch vor dem Abend, die Angst vor dem Morgen, hinter sich lassen. Amen.