27 Der Mensch und Gott

Theologische Arbeit im Fach Fundamentaltheologie


Hypothese: Der Mensch ist im Grunde eine einzige offene Frage nach Gott

1. Grunderfahrungen des Menschseins, die diese Aussage widerlegen

Um leben und überleben zu können, ist der Mensch von seiner Geburt an aufgerufen und sogar gezwungen, fortwährend in seinem Leben bis hin zum Tod zu lernen. Das Stellen von Fragen ist so gesehen eine der wichtigsten und bedeutendsten Eigenschaften des Menschen. Er besitzt und entwickelt eine natürliche Neugierde, um so sich selbst, die ihn umgebende Welt mit ihren Dingen und letztendlich auch Gott näher zu erfahren und zunehmend besser kennenzulernen. Hierbei geht er, wenn er kann, gerne analytisch vor, um die Dinge und ihre Zusammenhänge zu begründen und zu beweisen (Wissenschaften). Die existentiellen Fragen aber, die jeden Menschen (früher oder später in seinem Leben) in seinem tiefsten Inneren umtreiben (Woher komme ich? Wohin gehe ich? Wer bin ich? Welches ist meine Berufung, mein Lebenssinn, mein Lebensziel? etc.), lassen sich aber gerade nicht nur mit dem Verstand und der Vernunft, so intelligent der Mensch auch sein mag, beantworten. Wäre dies der Fall, dann wäre Gott tatsächlich ‚nur‘ das Produkt unseres menschlichen Bewusstseins und wissenschaftlich ergründbar. In Wirklichkeit ist Gott aber der Lenkende, der Aktive und Handelnde (z.B. Ex 14,14); bei ihm läuft alles zusammen, er hat alle Fäden in der Hand. Er möchte das Gute im Menschen, das ja von ihm angelegt wurde, voll zur Entfaltung bringen. Sein ‚Programm‘ sozusagen ist die Liebe. Er kann gar nicht anders als fortwährend Liebe auszustrahlen, weil er selbst ja die Liebe ist. Da der Mensch als Ebenbild Gottes geschaffen wurde (Gen 1,27), sehnt auch er sich in seinem tiefsten Inneren nach Liebe, Zärtlichkeit, Frieden, Heil; er strebt nach dieser natürlichen Gemeinschaft mit dem göttlichen Gegenüber. Um sich selbst, die Welt und Gott so sehen und erfahren zu können, ist ein starker Glaube und sehr viel Vertrauen in diese göttliche Macht notwendig; nämlich der Glaube und das Vertrauen, dass Gott nach seinem Willen, sich jedem Menschen auf eine persönliche und liebende Art offenbaren will. So gesehen trägt der Mensch eine sehr große Verantwortung für das, was er glaubt – und für das, was er für sich subjektiv als Glaubenswahrheit erkannt hat. Durch diese Erfahrungen und Erkenntnisse werden somit sein gesamtes Fühlen, Denken und Handeln grundlegend mitbestimmt und geprägt.

Steht der Mensch in einer Lebenskrise (z.B. Leiden, Schmerzen, chronische Erkrankung, Behinderung, Verlust der Persönlichkeit, Verlust der Menschenwürde, etc.) oder fühlt sich gar in seiner Existenz gefährdet oder bedroht (z.B. unheilbare Erkrankung, Depression, Sterben, Tod etc.), kommt er gerne mit diesen tiefen Fragen in Berührung. In solchen Krisensituationen werden die Fragen nach dem Woher-‚ dem Wohin- und dem Sinn menschlichen Lebens ungemein konkret, bedrängend und letztendlich unausweichlich. Hierbei wird der Mensch in der Regel von großer Angst begleitet. Er fühlt sich abhängig, ausgeliefert und gefangen (Freiheitsverlust). Dies sind sehr wesentliche Grunderfahrungen des Menschen. Ich selbst erlebe im Krankenhausalltag oft, dass Menschen ihre körperliche Begrenztheit und irdische Vergänglichkeit ein Leben lang zu wenig oder sogar überhaupt nicht reflektiert haben, und so dann plötzlich diesen bedeutendsten und wichtigsten Fragen hilflos und ohnmächtig gegenüberstehen. Das Schicksal wird dann häufig als persönliches Pech verstanden und das Leben als nicht mehr lebenswert erfahren. Es hat alles keinen Sinn mehr; Verzweiflung, Sinnlosigkeit, Ratlosigkeit, Wertlosigkeit, Langeweile und innere Leere breitet sich aus.

Fazit: Diese Grunderfahrungen widerlegen das oben genannte Zitat. Weder erfährt der Mensch Gott, noch kann er ihn erkennen; im Gegenteil: Gott wird in solchen Situationen häufig zum Schuldigen gestempelt, er wird sogar angeklagt, verurteilt, verflucht und im schlimmsten Fall gar verneint.

2. Grunderfahrungen des Menschseins, die diese Aussage belegen

In seinen Entscheidungen ist der Mensch vor Gott immer frei. Das Geistige im Menschen will sich ein Leben lang mit dem Leiblichen und dem Seelischen auseinandersetzen. Der Geist ist es, der Leben schafft und erneuert. Er, insbesondere der Heilige Geist, wirkt wo er will. Das heißt dann auch, dass der Mensch unter allen Umständen und bis zuletzt wandlungsfähig ist. Dies ist natürlich sehr stark von der Ausprägung der Ich-Bildung und von der Persönlichkeitsentwicklung des Einzelnen abhängig[1]. Deshalb kann der angstbesetzte Mensch in den oben geschilderten kritischen Lebenssituationen grundsätzlich auch andere, sogar gegenteilige Erfahrungen (Erfahrungen der Gottesberührung und der Gotteserkenntnis) dahingehend machen, die persönliche Not als Chance, als Neuorientierung oder als Neuanfang für sein Leben verstehen und zu begreifen lernen. Dort wo wir große Angst erleben, stehen wir auch immer in einer der großen Forderungen des Lebens. Im Annehmen der Angst und im Versuch, sie zu überwinden, wächst uns ein neues Können zu. Jede Angstbewältigung ist ein Sieg, der uns stärker macht; jedes Ausweichen vor ihr ist eine Niederlage, die uns schwächt[2] (tiefenpsychologische Sicht). Gegenkräfte wie Glauben, Mut, Demut, Gottvertrauen, Hoffnung, Liebe können sich entwickeln und aufbauen. Diese Kräfte können dann helfen, sich in positivem Sinn immer wieder mit der Angst auseinanderzusetzen, sie sogar anzunehmen oder zu überwinden. Hierbei kann sich einem eine völlig neue Sicht der Dinge (z.B. Werteverschiebung) auftun und es können sich völlig neue Lebensperspektiven eröffnen. Gefühlmäßig erfährt der Mensch eine Art Metamorphose, eine Art persönlichen Exodus, eine Art Wiedergeburt zu neuem Leben. Er fühlt sich beschenkt und frei und wird sein Leben gänzlich neu und zwar auf Gott hin ausrichten. Ebenso ist er jetzt fähig, sein Leben mitsamt den subjektiven Fehlern, Niederlagen und auch Leiden anzunehmen. Er erkennt die tiefe Schicksalshaftigkeit seines Daseins und vertraut zunehmend auf die Barmherzigkeit und die Vorsehung Gottes in seinem Leben, sowohl für die Vergangenheit, als auch für die Gegenwart und die Zukunft.

Fazit: Diese Grunderfahrungen belegen das oben genannte Zitat. Gott wird in seiner Wesenhaftigkeit und Persönlichkeit transparent. Gottes großmächtiges Handeln an jedem Menschen persönlich wird von diesem zunehmend erfahren und erkannt (Weisheit des Menschen). Jetzt kann er eine immer größere Dankbarkeit und ein immer größeres Vertrauen zu Gott entwickeln. Er sehnt sich immer mehr nach der Gemeinschaft und der Liebe Gottes, und zwar so lang, bis letztendlich seine Seele in ihm selbst ruht (Bewusstsein, dass er ein Teil eines großen Ganzen ist, in das er wieder eingehen wird).


[1] Aus ‚Pflege‘ von L. Juchli, 8. Auflage, S.27

[2] Aus ‚Grundformen der Angst‘ von Fritz Riemann, S.201