34 Das Meerwunder

Theologische Arbeit im Fach Altes Testament


Die Rettung am Schilfmeer - Exodus 14,15-31

"Der Herr sprach zu Mose: Was schreist du zu mir? Sag den Israeliten, sie sollen aufbrechen. Und du heb deinen Stab hoch, streck deine Hand über das Meer, und spalte es, damit die Israeliten auf trockenem Boden in das Meer hineinziehen können. Ich aber will das Herz der Ägypter verhärten, damit sie hinter ihnen hineinziehen. So will ich am Pharao und an seiner ganzen Streitmacht, an seinen Streitwagen und Reitern meine Herrlichkeit erweisen. Die Ägypter sollen erkennen, dass ich der Herr bin, wenn ich am Pharao, an seinen Streitwagen und Reitern meine Herrlichkeit erweise. Der Engel Gottes, der den Zug der Israeliten anführte, erhob sich und ging an das Ende des Zuges, und die Wolkensäule vor ihnen erhob sich und trat an das Ende. Sie kam zwischen das Lager der Ägypter und das Lager der Israeliten. Die Wolke war da und Finsternis, und Blitze erhellten die Nacht. So kamen sie die ganze Nacht einander nicht näher. Mose streckte seine Hand über das Meer aus, und der Herr trieb die ganze Nacht das Meer durch einen starken Ostwind fort. Er ließ das Meer austrocknen, und das Wasser spaltete sich. Die Israeliten zogen auf trockenem Boden ins Meer hinein, während rechts und links von ihnen das Wasser wie eine Mauer stand. Die Ägypter setzten ihnen nach; alle Pferde des Pharao, seine Streitwagen und Reiter zogen hinter ihnen ins Meer hinein. Um die Zeit der Morgenwache blickte der Herr aus der Feuer- und Wolkensäule auf das Lager der Ägypter und brachte es in Verwirrung. Er hemmte die Räder an ihren Wagen und ließ sie nur schwer vorankommen. Da sagte der Ägypter: Ich muss vor Israel fliehen; denn Jahwe kämpft auf ihrer Seite gegen Ägypten. Darauf sprach der Herr zu Mose: Streck deine Hand über das Meer, damit das Wasser zurückflutet und den Ägypter, seine Wagen und Reiter zudeckt. Mose streckte seine Hand über das Meer, und gegen Morgen flutete das Meer an seinen alten Platz zurück, während die Ägypter auf der Flucht ihm entgegenliefen. So trieb der Herr die Ägypter mitten ins Meer. Das Wasser kehrte zurück und bedeckte Wagen und Reiter, die ganze Streitmacht des Pharao, die den Israeliten ins Meer nachgezogen war. Nicht ein einziger von ihnen blieb übrig. Die Israeliten aber waren auf trockenem Boden mitten durch das Meer gezogen, während rechts und links von ihnen das Wasser wie eine Mauer stand.So rettete der

Herr an jenem Tag Israel aus der Hand der Ägypter. Israel sah die Ägypter tot am Strand liegen. Als Israel sah, dass der Herr mit mächtiger Hand an den Ägyptern gehandelt hatte, fürchtete das Volk den Herrn. Sie glaubten an den Herrn und an Mose, seinen Knecht." Textquelle: Das Alte Testament - Einheitsübersetzung



Theologische Auseinandersetzung mit dem Vorwurf, dass das Meerwunder in Exodus 14,15 ff eine Geschichtsfälschung ist und so nicht geschehen sein kann

Gegenüber der vom Erzähler unterstützten Vorstellung eines Volksauszugs (Exodus = Weg heraus) muss man wohl eher an die geglückte Flucht (ggf. sogar Vertreibung) einer kleineren Gruppe hebräischer Sklavenarbeiter denken. Da verschiedene biblische Verfasser und Redaktionen (J / E / D / P) unabhängig voneinander ihre jeweilige Auffassung dieses Geschehens niederschrieben, ist auch der genaue Fluchtweg kaum mehr zu rekonstruieren. Die früheste Überlieferung ist die des Jahwisten. Sie lässt erkennen, dass es sich bei der ‚Großtat Jahwes am Schilfmeer‘ um ein Konstellationswunder handelt. Das Zusammentreffen bestimmter Naturphänomene (vgl. Ex 14,21) lässt in der Stunde der größten Angst und Not die Flucht der lsraeliten gelingen. Ein so seltenes Naturereignis gerade zur ‚Stunde des Schicksals‘, in der es um Sein oder Nichtsein ging, konnte von den Betroffenen gar nicht anders denn als Eingreifen Jahwes gedeutet werden. Der Exodus wirkt nach und Israel erinnert sich immer wieder an die erlebte Befreiung aus Ägypten. Jüngere Erzählungen, wie die der priesterschriftlichen Tradition, malen dann aufgrund ihres Überdenkens des Überlieferten das Geschehen noch stärker aus (vgl. Ex 14,29).

Diese tiefsten und innersten Gotteserfahrungen der Mose-Gruppe am Schilfmeer (Jahwe handelt für uns, Jahwe rettet uns, Jahwe hilft uns, Jahwe ergreift Initiative für uns, Jahwe kämpft für uns, Jahwe liebt uns etc.) prägten alles weitere religiöse Denken und Handeln jener Menschen und schweißte aus ihnen eine starke Einheit zusammen. Sie waren sich gewiss: Der Herr hatte Großes an ihnen getan, er hatte seine Herrlichkeit offenbart und sie hatten seine, sowohl rettende als auch vernichtende Macht erfahren und erkannt. Diese fundamentale Erfahrung des Heils und des Glaubens wurde dann an die anderen semitischen Stämme weitererzählt (vgl. Ps 78,4) und in Hymnus, Gebet und Psalmodie immer wieder reflektiert und bezeugt (Propheten / Psalmen). Das weltgeschichtlich relativ unbedeutende Ereignis wurde so zum sinn- und gemeinschaftsstiftenden Geschehen, die Erfahrung Einzelner zur Kollektiverfahrung ganz Israels. So entwickelte sich das Thema ‚Exodus‘. als das befreiende Handeln Jahwes, zur Glaubensgrundlage und zum Glaubensbekenntnis über Jahrhunderte und Jahrtausende hinweg, bis zum heutigen Tag. (Auf die interessante tiefenpsychologische Argumentation und Sichtweise möchte ich hier nicht eingehen.) Ein solch umfassendes und durchhaltendes Zeugnis hat deshalb alle historische Glaubwürdigkeit für sich; und dies, obwohl alle Theorien über die tatsächlichen Ereignisse nur Hypothesen sind und wir definitiv nicht wissen. wie es wirklich war.

Hingegen ging es den Betroffenen selbst und den biblischen Verfassern der nachfolgenden Generationen nie um ein historisches Berichten oder gar ein Aufzählen von äußeren Fakten. Ex 14,15 ff ist also kein historischer Bericht. Ich zähle die Exoduserzählung am ehesten zu den epischen Texten, aber auch poetische (z.B. Ex 15,1-21), liturgische (z.B. Ex 33,12-17) und prophetische (z.B. Ex 6,2-13) Textgattungen sind darin zu finden. Die Wahrheit und Wirklichkeit wird subjektiv zunächst ganz stark auf der emotionalen, geistig-seelischen Ebene (inneres Erleben) erfahren, dann reflektiert und mit Hilfe der Bilder und der Symbolsprache vermittelt. So wird versucht, die innere ‚Angerührtheit‘ (von Gott) und die persönliche Betroffenheit zum Ausdruck zu bringen. Objektivierbare Gegebenheiten und bloße Fakten spielen weder für die damaligen Augenzeugen noch für die Verfasser eine wichtige Rolle, auch Generationen später nicht. Deshalb treten auch die rein historischen Fragen wie z.B. ...

  • Welchen Weg ist die Gruppe um Mose tatsächlich gegangen?
  • Von welchem Meer / See ist die Rede?
  • Hat Mose das Meer mit seinem Stock gespalten?
  • Stand rechts und links der Israeliten das Wasser wie eine Mauer?
  • Wurde (auf göttlichen Befehl) durch die ausgestreckte Hand des Mose das Meer an seinen alten Platz zurückgeflutet?
  • Blieb kein einziger der Ägypter übrig?
  • Ist die gesamte Meerwundererzählung eine Geschichtsfälschung?

... vorerst völlig in den Hintergrund. Aus diesem Grund ist eine präzise Bestimmung und Benennung der damaligen Ereignisse am Schilfmeer heute und auch zukünftig nicht mehr möglich. Für die Israeliten damals wie für den modernen Menschen heute dominiert in der Begegnung mit Gott immer das innere Erleben. Die Glaubenserfahrungen am Schilfmeer wurden somit als Glaubenswahrheit erkannt, bezeugt und dann im Glaubensbekenntnis weitergegeben. Hieraus erwächst auch die Motivation des Volkes gegenüber den weiteren Weisungen Jahwes (vgl. Ex 34,1 8). In scheinbar auswegloser und lebensbedrohlicher Situation gefangen, vertrauten die Israeliten ihrem Gott Jahwe, der ja schon zuvor seinen Namen offenbart hatte. Jetzt offenbarte Jahwe seine Herrlichkeit und griff überwältigend in der Rolle des Kriegers ins Geschehen ein; vernichtend für die Ägypter zum Heil für die Israeliten. Diese wurden von dem Gefühl bestimmt: Jahwe ist jetzt in dieser Situation der Angst und der unmittelbaren Todesgefahr mit uns und er rettet uns durch seinen (von ihm berufenen und bevollmächtigten) Knecht Mose. Durch diese Rettung erlebt jeder persönlich eine Art Wiedergeburt, d.h. das Leben und alles was damit mittelbar und unmittelbar in Zusammenhang steht, wird ihm von Gott neu geschenkt. Gott so erkennen zu dürfen, wurde als große Gnade empfunden, die sich in Siegesliedern, Dankliedern und Gebeten ausdrückte (z.B. im Lied der Miriam und des Mose in Ex 15). Der so ‚neugeborene‘ Mensch, der Gott gefunden hat und mit ihm verbunden bleibt, fühlt sich wirklich frei. Dass die Meerwunder-Schilderung über das historische Geschehen hinausgehen möchte, erkennen wir auch an der Mose-Aussage in Ex 14,13-14. Gott ist hier der Aktive und Handelnde. Der Mensch dagegen kann im sicheren Vertrauen auf Gott ruhig abwarten und sich dann von ihm auffangen bzw. retten lassen.

Fazit: Der ,Exodus‘ wurzelt in der historischen Erfahrung einer kleinen Gruppe. Diese hatte sich aus dem harten Frondienst in Ägypten unter der klugen Führung des Mose abgesetzt [1]. Am Schilfmeer rettete sie Gott. Die Mose-Gruppe erzählte von ihrer Befreiung (Kollektiverfahrung) und steckte somit andere semitische Gruppen an. Die Befreiungstat Jahwes entwickelte sich zur Basis des Glaubens in ganz Israel. Die äußere Wirklichkeit präzise beschreibender Fakten war für die damaligen Augenzeugen und Autoren nicht relevant. Sie sind es, so interessant sie für die aktuelle Exegese erscheinen mögen, für einen mit Gott verbundenen und aus dem christlichen Glauben heraus lebenden Menschen auch heute nicht. In den überlieferten Texten geht es um Glaubenswahrheiten, nicht um historische Berichte. So wird es auch zukünftig mehr oder weniger wahrscheinliche Hypothesen und Theorien geben, bei denen nach wie vor viele Fragen nach der historischen Wirklichkeit und Wahrheit (einschließlich bezüglich des in Ex 14,15 ff geschilderten Meerwunders) offen bleiben müssen.


[1] Heinrich Kahlefeld und Otto Knoch, Unsere Hoffnung – Gottes Wort, S.247