6 Vom Wachsen der Saat

Theologische Arbeit im Fach Neues Testament


Markusevangelium 4,26-28

„Jesus sagte: Mit dem Reich Gottes ist es so, wie wenn ein Mann Samen auf seinen Acker sät; dann schläft er und steht wieder auf, es wird Nacht und wird Tag, der Samen keimt und wächst, und der Mann weiß nicht, wie. Die Erde bringt von selbst ihre Frucht, zuerst den Halm, dann die Ähre, dann das volle Korn in der Ähre.“ Textquelle: Das Neue Testament - Einheitsübersetzung


Die Lebenserfahrung des Bauern zur Zeit Jesu in Mk 4,26-28

Der Bauer brachte das Samenkorn in die nackte Erde. Die Sonne erwärmte den Boden und der Regen hielt ihn feucht. Mit der Zeit entwickelte sich ein Spross, ähnlich wie Gras, der wuchs und größer wurde, dann der Halm, dann die Ähre und das volle Korn in der Ähre. Auch bei anderen Früchten, welche die Erde hervorbrachte war ähnliches zu beobachten z.B. bei der Weintraube. Zuerst verlor der Weinstock im Herbst das Laub, dann entstand im Frühjahr ein Spross, dann ein Blatt, dann viele Blätter, dann eine Blüte, dann eine saure und danach eine reife Weintraube. Der Bauer nahm wahr, dass die Erde quasi aus sich heraus auf wunderbare und rational nicht erklärbare Art und Weise Frucht hervorbrachte. Er selbst musste nichts dazu tun. Er brauchte nur wachen, schlafen, hoffen und Geduld haben. So konnte er nur staunen und alles, was hier vor sich ging, ganz genau beobachten. Er mochte dieses Wunder zunehmend besser verstehen und begreifen. Aufgrund seiner Erfahrung wusste er, dass das Leben in ein natürliches Ordnungsgefüge eingebettet war. Sowohl die Jahreszeiten wechselten und kehrten immer wieder als auch der Rhythmus von Tag und Nacht (hell / dunkel), der Wechsel von warm zu kalt und von feucht zu trocken. Ebenso wusste er, dass die Frucht nur unter bestimmten günstigen Bedingungen reif wurde. Erde, Wärme, Licht und Wasser ermöglichten nicht nur das Aufgehen und Wachsen der Frucht, sondern das Leben überhaupt. So fühlte er sich mit der Natur im Einklang, spürte aber auch seine Abhängigkeit und Ohnmächtigkeit von diesen Gewalten.

So gab es natürlich auch die andere Erfahrung, dass z.B. der Regen ausblieb, dass z.B. der heiße Ostwind die Frucht versengte oder dass z.B. ein Unwetter oder ein Heuschreckenschwarm die ganze harte Arbeit der Feldbestellung und der Aussaat zunichte machte. Ehrfürchtig und staunend stand der Mensch damals vor diesen großartigen Wundern der Natur. Brot und Wein zählten zu den wichtigsten Grundnahrungsmitteln. Was hier geschah und sich entwickelte übertraf alles Verstehen und Begreifen. Diese Erfahrungen waren damals eingebettet in die Vorstellungen vom altorientalischen Weltbild und in die alttestamentlichen Offenbarungen von Gott als dem Schöpfer von Himmel und Erde. Nur eine höhere Macht und Kraft (Jahwe-Gott) konnte sich so fürsorglich um die Menschen (sein auserwähltes Volk Israel) kümmern. Er ordnete alle Dinge so, wie es ihm gefiel. Er schenkte von sich aus das Wachstum, den Wind, die Sonne und den Regen; und dies alles zur rechten Zeit. Was Gott tat, war immer zum Wohl des Menschen. Dieser durfte mit großer Freude 30-‚60- und l00fach ernten. Für Gottes Gaben und sein großmächtiges Handeln am Menschen dankte dieser ihm von ganzem Herzen. Solch tiefe Erkenntnis der Wahrheit Gottes ließ ihn niederknien und anbeten.

Wie Jesus die bäuerliche Erfahrung für seine Verkündigung wirken lässt

Wie das kleine Weizenkorn in der (Mutter-) Erde sterben muss, um dann einen Prozess der Reifung und Entwicklung bis zur vollen, korntragenden Ähre zu durchlaufen, so muss auch im gottesgläubigen Menschen ‚der alte Mensch‘ sterben, damit Gott bei ihm einziehen, er in Werken der Liebe wachsen und sich so, gemäß Gottes Weisung und dem Vorbild Jesu Christi zu einem neuen Menschen entfalten und entwickeln kann. So entspricht der Same dem göttlichen Wort, das je nach Beschaffenheit des Bodens (Herzen der Menschen) und den unterschiedlichen Einflüssen von außen Frucht bringt. Das Weizenkorn, zu Mehl und Brot verarbeitet, ermöglicht dem Menschen das Leben. Es verleiht ihm Kraft die nicht aus eigener Anstrengung erworben, sondern von Gott geschenkt wird. Mit Gottes Reich ist es genauso. Alle Kraft kommt von ihm. Gott gegenüber sollte der Mensch offen sein, er sollte ihm vertrauen, seine Worte hören und gemäß seiner Weisung handeln. Gottes Reich gehört die Zukunft. Durch das Auftreten und Wirken Jesu Christi hat es schon begonnen und befindet sich im Aufbau.

So gewiss die Ernte kommt, da die Erde, nachdem der Bauer ausgesät hat, von selbst die Frucht hervorbringt (Durch das Nicht-machen ist alles gemacht), so gewiss wird das Reich Gottes in dieser Welt durch Gottes Handeln seine Vollendung finden. Die Reich Gottes Botschaft ist somit kein abstrakter Begriff, sondern wird von Jesus als Erfahrung der eigenen Wirklichkeit vermittelt. Dass aber zwischen dem Samenkorn und dem Reich Gottes ein wesentlicher Zusammenhang besteht leuchtet freilich nur dem ein, dem das Geheimnis des Reiches Gottes gegeben ist.

Was uns dieses Gleichnis für unser Christsein heute geben kann

Die Kernaussage und die Botschaft dieses Gleichnisses ist doch heute noch genau die gleiche wie damals. Trotz aller Wissenschaften und modernsten Techniken sind die Möglichkeiten des Menschen nach wie vor begrenzt. Dies wird auch immer so sein. Aus jeder beantworteten Frage, sowohl im Makro- als auch im Mikrokosmos, ergeben sich duzende neuer Fragen, die ihrerseits nach Beantwortung und Klärung drängen. Und obwohl wir z.B. Korn und Lebensmittel in Fülle produzieren können, schaffen wir es trotzdem nicht alle Menschen dieser Erde zu ernähren. Zigtausende sterben täglich den Hungertod. Auch ist es dem Menschen bis zum heutigen Tag nicht möglich, Korn oder beispielsweise ‚nur‘ eine Blume mit Hilfe einer Maschine herzustellen. Warum die Blume wächst und der Vogel singt ist eben weniger verstandesmäßig und intellektuell begreifbar, als vielmehr sinnlich und emotional erfahrbar. Welcher Respekt aber auch welche Ohn-macht des heutigen, modernen Menschen vor solchen wahren Wundern der Natur.

Auch bei jungen Menschen z.B. in der Firmkatechese überwiegt oft die Vorstellung, dass nur das was auch wissenschaftlich begründbar und beweisbar ist, glaubwürdig sein kann. Durch die Vielzahl der heutigen, modernen Medien wird dies unterstützt und verstärkt. Die Kommunikation ist einseitig, oft verletzend. Lösungen für jegliche Probleme sind meist sofort parat. Meinungen werden oft nicht hinterfragt übernommen. ,Abstumpfung‘ und Unterentwicklung der emotionalen Fähigkeiten wie z.B. des Einfühlungsvermögens, der Vorstellungskraft, des Mitgefühls und des Mitleids sind zwangsläufig die Folge. Eines meiner wichtigsten Ziele ist es, dass diese mir anvertrauten Jugendlichen im Laufe der Zeit durch Betrachtung, Meditation, Ruhe und Stille ihr Gefühlsleben entwickeln lernen. Eine Art innerer Angerührtheit und Betroffenheit ist mir wichtig z.B. sich in den Bauern hineinfühlen können, einem Freund zuhören können, einen Kranken begleiten können, Vertrauen entwickeln können etc.. So kann uns dieses Gleichnis zunächst helfen, zu uns selbst ‘zu finden. Es lehrt uns, alte und festgefahrene Denkstrukturen zu durchbrechen, um die im Gleichnis enthaltenen tieferliegenden Wahrheiten zu entdecken. Nur der Sonne und dem Regen öffnet sich die Frucht auf dem Acker; nur in Güte und Verständnis reift in uns die Wahrheit. Gott will unser Glück und unsere Reifung.