5 Die Heilung eines Gelähmten


Steh auf nimm deine Trage und geh

Textquelle: Das Neue Testament - Übersetzung von Fridolin Stier, 1989 - MK 2,1-12

 

"Als Jesus nach Tagen abermals nach Kafarnaum kam, ward gehört, er sei im Haus. Und viele liefen zusammen, dass auch im Torhof kein Platz mehr war. Während er das Wort zu ihnen redet, kommen und bringen sie einen Gelähmten zu ihm – von vier Mann getragen. Weil sie ihn wegen der Leute nicht zu ihm hinbringen konnten, deckten sie da, wo er war, das Dach ab und gruben ein Loch hindurch. So senken sie die Bahre, darauf der Gelähmte lag, hinunter. Als Jesus ihren Glauben sieht, sagt er zum Gelähmten: Kind, jetzt sind deine Sünden nachgelassen. Einige der Schriftgelehrten aber saßen dort und dachten in ihren Herzen: Was! So redet der! Er lästert. Wer kann Sünden nachlassen außer einem: Gott? Gleich aber erkennt Jesus in seinem Geist, dass sie so bei sich denken, und er sagt zu ihnen: Was denkt ihr da in euren Herzen? Was ist leichter, zum Gelähmten zu sprechen: Jetzt sind deine Sünden nachgelassen, oder zu sprechen: Auf, und nimm deine Bahre und geh einher? Damit ihr aber wisst, dass der Menschensohn Vollmacht hat, auf Erden Sünden nachzulassen, sage ich dir – sagt er zum Gelähmten: Auf, nimm deine Bahre und geh nach Haus! Und der richtete sich auf und nahm gleich die Bahre. Er ging hinaus vor aller Augen, so dass alle außer sich gerieten, Gott verherrlichten und sagten: So etwas haben wir nie gesehen!"


Predigt im Jahreskreis 2006


Der Gelähmte - Bin das etwa ich

Liebe Gemeinde, Schwestern und Brüder im Herrn,

kennen Sie das? Ein Ziel vor Augen – man kommt aber nicht durch – der Weg dorthin ist versperrt. Was tun? Umkehren? Aufgeben? Vielleicht auf eine günstigere Gelegenheit warten? Nein – entscheiden die vier Männer im heutigen Evangelium. Weder der versperrte Weg, noch die vielen Menschen – nichts wird sie heute auf ihrem Weg aufhalten. Ein Weg der so ganz anders und äußerst ungewöhnlich verläuft. Sie steigen nämlich diesem Jesus, im wahrsten Sinne des Wortes, aufs Dach. Sie heben es ab, brechen die Decke durch, um so zu ihrem Ziel – Jesus, der gerade zu den Menschen spricht, vorzudringen. Sie tun es nicht für sich. Der, den sie tragen, ist gelähmt. Er kann aus eigener Kraft nichts mehr tun. Alles beginnt also damit, dass ein paar Leute aus der Umgebung die Initiative ergreifen, den Kranken so wie er ist mitnehmen, um ihn in die heilende Nähe Jesu zu bringen. Wir erfahren weder, wer die vier Männer sind, noch was ihr eigentliches Motiv ist. Vermutlich hatten sie den Kranken schon oft genommen und getragen, ohne ihm wirklich helfen zu können. Jetzt aber wissen sie: Jesus ist da. Wenn jemand helfen kann, dann er. Und genau das ist es, was sie verbindet. Die Hoffnung im gemeinsamen Glauben an die heilende Kraft dieses Jesus von Nazareth. Und Jesus erkennt ihren Glauben sofort. Denn es heißt dort schlicht: „Als er ihren Glauben sah.“ Deshalb war er auch nicht verärgert oder gar erschreckt, als sie plötzlich den Gelähmten durch das Dach zu ihm hinabseilten; ihm den Gelähmten buchstäblich vor die Füße legten – unabweisbar – unübersehbar – zwingend. Der erste Schritt, das zunächst aussichtslos Erscheinende, war damit geschafft. Der Kranke ist bei Jesus.

Faszinierend diese Geschichte, finden Sie nicht auch. Wie bewundernswert der Einsatz und die Energie dieser vier Männer. Ihre Phantasie und Hartnäckigkeit, ja sogar ihre Zudringlichkeit und ihr Durchsetzungsvermögen. Mehr als diese Leute hier versuchen, kann kein Mensch, ob Arzt oder Seelsorger, für einen anderen tun. Ist dies aber nicht auch ein Aufruf an uns, über andere, vielleicht neue Zugänge zu Jesus nachzudenken? Warum nicht auch mal etwas – im wahrsten Sinne des Wortes – ‚Ver-rücktes‘ tun? Vor einigen Jahren erzählte Sr. Liliane Juchli im Paulussaal in Freiburg folgende Geschichte. Ihre beste Freundin war schwer erkrankt. Seit Wochen lag sie im Kantonsspital in Zürich auf der chirurgischen Wachstation. Trotz maximaler Therapie verschlechterte sich ihr Zustand zunehmend. Für Liliane war dies schlimm und sie dachte: „Ich muss doch etwas tun können? Es muss doch irgendetwas geben, was hilft?“ Dann – am nächsten Morgen, sah man sie mit einer großen Tasche ins Spital gehen. Als es dann später an die Tür klopfte, kam der Chefarzt mit seinem ganzen Gefolge herein. Alle erschraken und konnten nicht fassen, was sie sahen. Auf dem Deckbett der Patientin lag ein tigerfarbenes Kätzchen. Sie streichelte es – denn es war – ihr Kätzchen – und – sie hatte es so sehr vermisst. Der Chefarzt war zunächst wenig begeistert. Als er aber dann das Glück und die Freude in ihren Augen sah, erlaubte er – wider alle Regeln der Hygiene und Vernunft – die Anwesenheit des Kätzchens. Und sie wurde – wie durch ein Wunder – wieder gesund. Liliane's verrückte Idee rettete ihr das Leben.

Ab und zu fragte Jesus die Kranken: „Was soll ich dir tun?“ Der Blinde möchte wieder sehen, der Taubstumme wieder hören und reden und der Lahme natürlich wieder gehen können. Der Gelähmte heute kann all dies auch nicht, er kann sich noch nicht einmal mehr artikulieren. Diese körperliche Lähmung ist zwar für sich betrachtet schon schlimm – und doch ist sie nur ein Symptom, also ein äußeres Zeichen. Die eigentliche Krankheitsursache liegt – verborgen und unsichtbar – noch viel tiefer. Nämlich in einer inneren, seelischen Lähmung, hervorgerufen durch Sünde und Schuld. Zum einen die tiefe Resignation infolge bereits begangener Fehler in der Vergangenheit – zum anderen die tiefe Angst der Seele vor möglicher Schuld in der Zukunft.

Solche Betroffene, wenn sie sich überhaupt noch mitteilen können, sagen zum Beispiel: „Ich bin total am Ende – Ich komme nicht mehr zu mir selbst – Ich tu nur noch das, was andere von mir wollen – Ich bin ja doch nicht so wichtig“. Diese Art der Lähmung von innen heraus ist also noch viel schlimmer. Denn – sie verbaut den Weg zu mir selbst und meiner Selbstbestimmung. Auch dies erkennt Jesus sofort und befreit den Gelähmten deshalb zunächst von seinen inneren Lähmungen, indem er sagt: „Mein Sohn“, – Jesus steht zu dem Gelähmten wie zu einem eigenen Sohn – „deine Sünden sind dir vergeben“, was nichts anderes bedeutet als: Die absolute Gewissheit einer völligen Vergebung seiner Schuld vor Gott. Und einzig diese Gewissheit wird den Gelähmten befähigen, sein altes bisheriges Leben mit all seinen Zwängen und Unfreiheiten zu überwinden, um von jetzt an wieder neu zu leben – neu Verantwortung für sich und sein Leben zu übernehmen.

Liebe Gemeinde, Schwestern und Brüder im Herrn,

natürlich hatte Jesus die Vollmacht Sünden zu vergeben und Kranke zu heilen. Er behielt diese aber nicht für sich, sondern gab sie weiter an seine Jünger. Und deshalb spricht Christus seit dieser Zeit zu jedem, der an ihn und seine Vollmacht glaubt: „Mein Sohn, meine Tochter, mein Kind – auch deine Sünden sind dir vergeben.“ Und wenn sie mich jetzt fragen, wann und wo dieses Wunder – die Sündenvergebung ist hier ein viel größeres Wunder als die Krankenheilung – geschieht? Dann sage ich: Nicht nur im Beichtstuhl oder im Bußgottesdienst, sondern immer dann, wenn wir Gottes Wort hören und tun. Schwer drückt die Last, die mancher, oft ein Leben lang, mit sich herumträgt. Nie erlischt die Schuld, die immer nur die Anderen verantwortlich macht. Der Gelähmte – das ist nämlich kein Andererals Duund Ich. Amen.